Mit der Digitalisierung und der zunehmenden Vernetzung unserer heutigen Zeit ist auch die Individualisierung, insbesondere in den westlichen Gesellschaften, vorangeschritten. Dank weitgehender sozialer Sicherheit und den damit verbesserten Lebensstandards können wir uns vermehrt damit beschäftigen, was wir im Leben erreichen und wie wir uns selbst verwirklichen wollen.
Ich dachte mir: «Das klingt doch fast zu schön, um wahr zu sein.» und habe mich deswegen genauer mit der Veränderung der Gesellschaft auseinandergesetzt.
Freiheit ohne Ende
Wer in die unendlichen Weiten des Internet eintaucht, reiht sich als ein weiteres Pseudonym ein. Diese Anonymität kann Freiheit bedeuten; die Freiheit haben, zu sein, wer auch immer man sein will. Auf der anderen Seite bringt das auch Unsicherheit mit sich.
Vieles, dass wir online antreffen, ist fake oder kratzt nur an der Oberfläche. Die Menschen hinter den Pseudonymen lernen wir gar nie wirklich kennen. Es sind flüchtige Bekanntschaften, die uns vermeintliche Intimität vorspielen. Wir sehnen uns nach immer mehr Likes, immer mehr Anerkennung. Bleibt sie aus, fallen wir in ein Loch. Die vorgegaukelte Intimität ist genauso schnell weg, wie sie gekommen ist. Was bleibt, ist Einsamkeit. Dabei ist Einsamkeit nicht zu verwechseln mit Alleinsein. Es ist eher das genaue Gegenteil; wer einsam ist, ist quasi unfähig «ganz allein, mit sich selbst» zu sein.
Natürlich, oberflächlich betrachtet, beschreiben Einsamkeit und Alleinsein die gleiche Situation. Der Unterschied liegt darin, welche Einstellung wir dazu einnehmen:
Alleinsein: «Ich bin allein und fühle mich wohl, denn ich brauche niemanden anderes, um glücklich zu sein. Ich bin zufrieden einfach nur mit mir selbst.»
Einsamkeit: «Ich fühle mich einsam, weil niemand da ist. Ich brauche andere Menschen, damit ich mich gut fühle. Glücklich sein kann ich nur durch andere Menschen. Ich allein genüge mir nicht.»
Ich muss also feststellen, dass die zunehmende Individualisierung nicht das Nonplusultra ist: Obwohl wir immer mehr so sein können, wie wir gerne möchten, viele Freiheiten haben und uns unendlich vernetzen können, geht es uns im Grunde genommen nicht besser. Denn wir leben oft mehr im Schein als im Sein und es ist leicht, sich in dieser Scheinwelt zu verlieren.
Gemeinsam gegen die Einsamkeit
Blicken wir auf unsere Vergangenheit zurück, sehen wir, dass wir seit jeher den Zusammenhalt, das «Wir» suchen. Was man natürlich nicht ausser Acht lassen darf, ist, dass es früher in vielen Fällen überlebensnotwendig war, einer Gruppe anzugehören. Heute sieht es etwas anders aus und trotzdem können wir unsere Wurzeln nicht leugnen: Wir suchen immer Nähe zu anderen Menschen, wollen uns zugehörig fühlen und wahrgenommen werden. Deswegen suchen wir trotz oder gerade wegen der hochindividualisierten Welt wieder das Wir-Gefühl, einfach in einer anderen Form.
Waren es früher Gruppen, Clans, Sippen und Stämme, so haben wir heute neuartige Gemeinschaften:
Co-Living: Wohngemeinschaft bestehend aus mehreren Individuen, die Verantwortung übernehmen und in sozialer Vielfalt leben wollen.
Co-Working: Kleine Startups, Freelancer oder digitale Nomaden arbeiten in den gleichen Räumlichkeiten und profitieren gegenseitig vom Know-how des anderen.
Co-Mobility: Statt Transportmittel wie Auto, Fahrrad usw. zu besitzen, teilt man sich diese mit anderen Menschen.
Es geht darum, seine individuellen Potenziale zu Gunsten der Gesellschaft einzusetzen, im Gegenzug aber auch in irgendeiner Weise davon zu profitieren.
Um auf den Anfang des Blogs zurückzukommen: Selbst in den Untiefen des Internets, wo es zusehends um Selbstoptimierung und Profitmaximierung geht (bestes Beispiel: Soziale Medien), gibt es einen leisen Trend hin zur Rückbesinnung: Vor allem jungen Kreativen geht es je länger je mehr darum, das Netz als einen Ort für eine neue, demokratischere und partizipativere Form der Kreativität zu etablieren; weg vom Kapitalismus hin zum «Wir». Dabei steht auch hier die Zugehörigkeit im Mittelpunkt.
Teamwork stärkt das Wir-Gefühl
Das hat nicht nur Auswirkungen aufs persönliche Leben, sondern greift auch in den Berufsalltag ein. Mit dem Aufkommen der Künstlichen Intelligenz werden immer mehr Arbeitsplätze von Computern übernommen. Das scheint erstmal keine gute Wendung zu sein, vor allem für die Menschen, die dadurch ihren Job verlieren. Sieht man es von einer etwas anderen Perspektive, bringt das durchaus auch Gutes mit sich: Wir können, ja, müssen uns sogar wieder auf unsere einzigartigen Fähigkeiten als Menschen konzentrieren, denn diese sind bislang ausschliesslich uns Menschen vorbehalten und die KI kann nicht mit uns mithalten. Solche Eigenschaften sind beispielsweise das Lösen von komplexen Herausforderungen oder das kritische Denken. Diese Fähigkeiten allein sind zwar schon viel, aber nicht alles: Arbeiten wir zusammen in einem Team können wir erst ihr ganzes Potenzial ausschöpfen. Gemeinsam können wir Lösungen finden zu scheinbar unlösbaren Problemen. Durch diese Zusammenarbeit im Team wiederum fühlen wir uns zugehörig und erhalten Anerkennung von den anderen Teammitgliedern, wir werden «gesehen». Das stärkt unser Wir-Gefühl.
Better together
Was habe ich nun daraus gelernt? Individualisierung ist nicht per se gut oder schlecht. Wir Menschen müssen einfach noch besser lernen, wie wir mit der neu gewonnenen Freiheit umgehen sollen. Dabei dürfen wir vor lauter Wahlmöglichkeiten und Selbstbestimmung nicht aus den Augen verlieren, dass wir Menschen einander brauchen und gemeinsam viel mehr erreichen können. Individualisierung und Wir-Kultur schliessen sich nicht aus, sondern können sinnvoll koexistieren.
Quellen & weiterführende Links